Gedanken zum Erntedank

Lübeck: Archiv - 01.10.2022, 09.09 Uhr: Am Sonntag wird das Erntedankfest gefeiert. Für Pastorin i.R. Ellen Naß sind die aktuellen Krisen ein besonderer Anlass, dieses Fest zu begehen. Die Knappheit an Energie und steigende Preise zeigten, dass unser gesichertes Leben ein Geschenk ist.

Dieses Jahr feiern wir wie jedes Jahr wieder Erntedankfest. Durch den 3. Oktober als Feiertag ist es immer mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein geschwunden, es gab auch lange Zeit Verwirrung um das eigentliche Datum, aber wir feiern jetzt immer am 1. Sonntag im Oktober. Ganz Lübeck feiert als groß aufgemachte Nachricht in der Zeitung morgen Erntedank – gemeint ist damit der verkaufsoffene Sonntag, der mit einem Gottesdienst eröffnet wird. Außerdem gibt es in vielen Kirchen besondere Gottesdienste, einen, in dem auch Tiere willkommen sind, schon heute. Leider traue ich meinem Hund dafür noch nicht genug.

Als Dorfpastorin erlebte ich in den Neunzigern, wie wichtig dort das Erntedankfest war. Landwirte besuchten den Gottesdienst, die Landfrauen flochten eine Erntekrone für die Kirche. Auch nach schlechten Ernten gehörte das Erntedankfest – genauso wie das rauschende Erntefest mit Essen, Tanz und Musik, einfach dazu.

Dieses Jahr ist für die meisten das Erntedankfest, der Herbst und die Ernte an sich, völlig anders, als wir es gewohnt sind. Menschen, die den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, können sich aus ihrer Jugend noch erinnern, wie so etwas ist, aber für uns Jüngere ist es völlig ungewohnt: ein Herbst, in dem wir nicht wissen, ob wir es den Winter über warm haben werden, ein Winter, in dem wir nicht wissen, ob wir uns genügend Lebensmittel leisten können, um satt zu werden. In meiner Jugend gab es zwar nicht die heutige exotische Vielfalt an Lebensmitteln, aber satt wurden wir immer und warm hatten wir es auch.

Das war uns allen auch bewusst, wenn wir Erntedankfest feierten. Selbst wenn die Ernte schlecht war, mussten wir keine Angst haben.

In diesem Jahr ist das anders. Die Nebenkosten explodieren, viele fragen sich, ob sie genug Geld für Lebensmittel übrig haben, nachdem sie die Wohnung geheizt und beleuchtet haben – wenn es denn überhaupt genug Gas gibt, um über den Winter zu kommen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und der lange heiße und trockene Sommer, dazu noch die Nachwirkungen von Corona, haben diese Lage geschaffen.

Das ist eine wirklich beängstigende Situation, und ich glaube, sie ist doppelt schlimm, weil es für uns so ungewohnt ist. Trotzdem, so meine ich, sollten und können wir das Erntedankfest feiern, vielleicht gerade deshalb.

Denn Dankbarkeit verändert den Blickwinkel. Dankbar bin ich für etwas, was geschehen ist, ich sehe auf das Gute in meinem Leben, in meinem Alltag. Dankbarkeit heißt, ich nehme dieses Gute nicht als selbstverständlich, sondern ich weiß, dass es ein Geschenk ist, etwas Besonderes, selbst, wenn es eigentlich immer da war. Dankbarkeit zeigt mir, dass Menschen, denen es schlecht geht, nicht unbedingt selbst verantwortlich sind für ihre Not, weil es ja Gabe ist, Geschenk.

Dankbarkeit lässt mich auch sehen, dass ich kein Anrecht auf dieses Gute habe, so dass ich mich mit schlechten Zeiten besser abfinden, sie besser überstehen kann. Ich weiß ja, dass Gott es gut mit mir meint, weiß, dass ich Ihm vertrauen kann, dass ich auch diese Zeiten überstehen. Vielleicht hilft Dankbarkeit auch, Ideen zu entwickeln, was man tun kann, um die Situation zu verbessern. Verzweiflung lähmt ja oft, lässt einen viele Möglichkeiten nicht sehen – Dankbarkeit öffnet die Augen.

Dieses Erntedankfest ist ungewöhnlich. Keiner weiß, was der Winter bringt. Aber wir wissen, was gewesen ist, dass wir dafür dankbar sein und uns freuen können, und dadurch Mut schöpfen für das, was kommt. So können wir morgen feiern – in einem Gottesdienst, in der Stadt.

Pastorin i.R. Ellen Naß weist auf die Bedeutung des Erntedankfestes hin.

Pastorin i.R. Ellen Naß weist auf die Bedeutung des Erntedankfestes hin.


Text-Nummer: 154203   Autor: red.   vom 01.10.2022 um 09.09 Uhr

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