Du sollst nicht töten!
Lübeck: Archiv - 20.05.2023, 08.36 Uhr: In ihren Gedanken zum Wochenende beschäftigt sich Pastorin i.R. Ellen Naß mit einem Tötungsdelikt in Oldenburg/Holstein. Dieser Fall geht ihr besonders nahe, da sie dort mehrere Jahre als Pastorin tätig war.In der letzten Woche wurde Ostholstein durch eine furchtbare Nachricht erschüttert: In Oldenburg/Holstein hat ein Mann seine Ehefrau auf offener Straße erschossen. Ich war einige Jahre Pastorin in dieser Stadt, aber nach der Beschreibung hat er nicht in dem Bezirk gelebt, für den ich zuständig war. Meine Gedanken und Gebete gelten den Angehörigen, Nachbarn und Freunden, die einen lieben Menschen verloren haben. Gerade in einer Woche mit Vater- und Muttertag ist es erschreckend, wenn so etwas geschieht.
Es hieß, er wäre Jäger gewesen, hätte deshalb auch legal ein Jagdgewehr besessen. Ich habe mehrere Jahre mit der Jägerschaft Oldenburgs eine Hubertusmesse gefeiert, dort gab es also durchaus Berührungspunkte. Es waren wunderschöne Gottesdienste, die Kirche war immer mit viel Grün geschmückt, die Jagdhornbläser spielten ihre Messe. Jetzt frage ich mich, wie viel menschliches Elend sich hinter dieser Stimmung verbarg. Ich weiß nichts über die Hintergründe dieser Tat, das möchte ich ausdrücklich betonen, aber im Normalfall geht solchem Mord jahrelange Misshandlung voraus.
Deshalb ärgert es mich immer, wenn in der Presse, wie auch in diesem Fall, von einem „Familiendrama“ geschrieben wird. Das Wort verschleiert und verniedlicht, was geschehen ist: Jemand ist mit einer Schusswaffe auf die Straße gegangen und hat einen anderen Menschen erschossen. Oder jemand hat einen anderen Menschen erschlagen, zu Tode geprügelt, erstochen, je nachdem. Niemand würde ohne den familiären Zusammenhang von „Drama“ sprechen, wenn ein Mensch durch einen anderen getötet wird.
„Du sollst nicht töten“, so lautet das 5. Gebot, jeder kennt es, und Konfirmanden und Konfirmandinnen haben es im Unterricht immer als das eigentlich wichtigste Gebot angesehen. Martin Luther hat das Gebot in seiner Erklärung wesentlich enger gefasst: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten an seinem Leibe weder Schaden noch Leid tun, sondern sollen ihm helfen und beistehen in allen Nöten.“
Manchmal habe ich den Eindruck, als wenn das in der Familie keine Gültigkeit hat. Natürlich ist in der Bibel die Frau dem Mann untergeordnet – das Buch stammt aus patriarchalischen Zeiten – aber man sollte sie gut behandeln und lieben.
Trotzdem durften bis vor wenigen Jahrzehnten Kinder geschlagen werden. Ehefrauen zu schlagen ist in Deutschland seit 1927 verboten, in einigen anderen Ländern ist es bis heute erlaubt oder wird geduldet. In Deutschland ist das zwar nun schon seit fast 100 Jahren nicht erlaubt, aber trotzdem in vielen Beziehungen immer noch Normalität. Als Jugendliche habe ich es bei Nachbarn miterlebt, immer wieder, und angeblich sah die Polizei keine Möglichkeit, einzugreifen. Meine Eltern und andere Nachbarn hatten das angeregt. Auch direkte Hilfsangebote wurden abgelehnt. Natürlich gibt es auch misshandelte Männer, aber Frauen sind gefährdeter und öfter betroffen.
Aber: Du sollst nicht töten – sollst niemandem schaden – gilt auch und gerade in Familien. Dort sind die Nächsten unserer Nächsten, ihnen sollten wir Gutes tun, sie schützen und behüten, weil wir sie lieben und weil Gott es so will. Gottes Gebot gilt auch, wenn wir uns ärgern, wenn wir vielleicht meinen, einen Grund zu haben für Gewalt. Deshalb halte ich dieses Gebot für wichtig, weil es uns zurückhalten sollte, wenn unsere Gefühle uns anderes vorspiegeln, wenn wir uns selbst nicht mehr im Griff haben.
Deshalb sind Gebote wichtig, auch gerade dieses Gebot, weil sie uns leiten können, abhalten können von dem, was wir vielleicht gerne tun würden, wofür wir auch Gründe finden, wofür wir uns vor uns selbst rechtfertigen können. Vor Gott können wir uns nicht rechtfertigen, Seine Worte sind eindeutig: „Du sollst nicht töten!“. Stattdessen sollen wir anderen Gutes tun, sie pflegen, ihnen helfen. Gottes Gebot wiegt schwerer als unsere Wut oder unsere Rachegelüste, nur mit Gottes Gebot können wir erleben, was wir uns alle erhoffen und wünschen: ein glückliches Familienleben, ein gutes Leben. Wir würden dann auch solche Nachrichten nicht mehr lesen müssen.
Pastorin i.R. Ellen Naß beschäftigt eine Tötung in Oldenburg/Holstein.
Text-Nummer: 158785 Autor: red. vom 20.05.2023 um 08.36 Uhr