Lübecks Opernereignis: Die Passagierin
Lübeck: Archiv - 13.10.2024, 17.03 Uhr: Diese Oper ist durchaus das Ereignis des Jahrzehnts im Großen Haus: „Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg (1919-1996). Was Bernd Reiner Krieger hoch spannend inszenierte, Takahiro Nagasaki mit den Lübecker Philharmonikern im Orchestergraben hochemotional in Klang setzte und ein makelloses Ensemble auf der Bühne „lebte“, wurde vom Premierenpublikum mit selten einmütigen Ovationen bedacht.Die Oper des aus Polen stammenden Komponisten entstand 1968 – und wurde erst ein halbes Jahrhundert danach uraufgeführt, als endlich die Bedeutung der Werke Weinbergs erkannt wurde. Der war 1939 nach Moskau geflohen, verdiente seinen Lebensunterhalt mit Filmmusiken und lebte im Windschatten seines Freundes Schostakowitsch. Sie profitierten voneinander: Schostakowitsch gab Rhythmus und Kraft, Weinberg bot (gelegentlich geradezu romantisches) Melos. Beides prägt diese „Passagierin“, die nun in immer mehr Häusern Erfolge feiert.
Der Inhalt: Eine deutsche Frau Lisa will um 1960 auf einer Schiffspassage nach Brasilien eine polnische Frau Marta erkannt haben, deren Aufseherin sie anderthalb Jahrzehnte zuvor in Auschwitz gewesen war. Es bricht die Erinnerung auf, die Peinigerin von damals wird nun ihrerseits gepeinigt von den Bildern damals. Diese Rückblenden stehen im Zentrum der klaren Handlung, die sich um die Frage dreht: Was ist Wahrheit? Die Antwort ist wiederum eine Frage: Was ist Verantwortung? Und es geht nicht um Kollektivschuld, sondern um das kollektive Gedächtnis. Das verrät auch der Text, der in der Übertitelungsanlage zu verfolgen ist, zumal Marta in wehmütigen Erinnerungspassagen polnisch singt.
Der Text ist keineswegs zweitrangig wie in manchen Opernhits der Vergangenheit. Er korrespondiert mit der Musik und mit den Bildern, die Regisseur Krieger hier für zwischenmenschliche und unmenschliche Situationen, für Emotionen, Fragen und Gewalt findet. Sie sind so klar und überzeugend, dass sie sich dem Betrachter umgehend mitteilen. „Die Passagierin“ ist Kriegers Meisterstück und zugleich eine Kollektivleistung des Theaters, musikalisch wie technisch und „anschaulich“. Da ist Hans Kudlichs stete Kulisse des Brückendecks (die Welt des schönen Scheins) mit den Verwandlungen per Hebebühne darunter, wenn Lager-Finsternis präsent wird. Da sind Kostüme von Ingrid Leibezeder, die alle Figuren und Gestalten klar (be)zeichnen. Da ist die Bewegtheit der Masse im Lager, darin Krieger sechs Frauen aus der Anonymität ebenso eindringlich heraustreten lässt wie er fast beiläufig das Deck des Luxusliners mit „Gesellschaft“ belebt. Letztere bleibt ein Schemen angesichts dessen, was in der fahlen Lagersphäre (Licht: Falk Hampel) sich in Gewalt entlädt und an Hoffnung keimt.
Nächstes Ausrufezeichen: Was für ein Ensemble! Hierbei kommt Lübeck mit wenigen Gästen aus. Für die beiden Hauptpartien braucht es Erfahrung, und die bringen sie mit: Marianne Lichtenberg, nicht zum ersten Mal auf dieser Bühne, beeindruckt als Lisa (szenisch) mit Zerrissenheit und (vokal) mit dramatischem Mezzo – Adrienn Miksch hat als Marta viele berührende Momente und lässt ihren Sopran vor allem im Finale blühen. Insistierende Höhen verlangt Weinberg auch von Walter, Lisas Mann: Der Tenor Konstantinos Klironomos beginnt sein hiesiges Engagement mit großer Souveränität. Die Höhen trotzt sich auch Jacob Scharfman als Martas Verlobter Tadeusz seinem sonoren Bariton ab.
Jede der Mitleidenden und -hoffenden von Marta, fast alle aus dem Ensemble und Opernstudio, kann sich, mit absoluter Sicherheit, profilieren: Natalia Willot, Frederike Schulten, Aditi Smeets, Delia Bacher und Elizaveta Roumiantseva. Unter den drei Schergen Viktor Aksentijevic, Wonjun Kim und Changjun Lee fällt dessen Bass auf. Ina Heise, Mark McConnell, Chul-Soo Kim, Hilli Eichenberg und Ulrike Hiller vervollständigen das Arsenal, in dem der von Jan-Michael Krüger einmal mehr bestens präparierte Chor (die graue Masse) seine Klasse bezeugt.
Eine Hauptrolle spielt die Musik mit ihrer Intensität von sehnsuchtsvollem Melos – auch einmal schweifend verklingend – bis zur Staccato-Wut, doch nie brutal und stets von jedem Menschen nachvollziehbar und miterlebbar. Großbesetzt vor allem bei Bläsern und Percussion, stellt die Partitur große Anforderungen an das Orchester und seinen Dirigenten. Hier ist einmal mehr Takahiro Nagasaki der Mann, dessen Sensibilität jedem Takt gerecht wird, der den Moment zuspitzt, Attacke reitet und auch mit ganzer Wärme die Sänger und Hörer umarmen kann. Was Streicher, Bläser und Schlagwerker im Graben und in den Seitenlogen für einen Sound vom Minimum bis zum Maximum entwickeln, zeugt vom Können der Philharmoniker und ihres ersten Kapellmeisters.
Es sollte sich schnell herumsprechen, was Lübeck mit „Die Passagierin“ mit noch sieben Vorstellungen bis März bietet. Es gibt ein Begleitprogramm (zu lesen auch in einem Folder). Es wendet sich, wie die Oper, an Alt und Jung, und wirbt für exemplarisches Musiktheater, das erfahrbar macht, was Menschlichkeit bedeutet.
Marlene Lichtenberg als Lisa und Adrienn Miksch als Marta beeindruckten das Publikum. Fotos: Jochen Quast
Text-Nummer: 168791 Autor: Güz. vom 13.10.2024 um 17.03 Uhr