Eindringlich: Märtyrerkantate von Töpel

Lübeck: "Wo es keine Trauer mehr gibt." Svea Regine Feldhoff berichtet über die Uraufführung der gleichnamigen Kantate für Sopran, Streichquartett und Klavier nach Texten der vier Lübecker Märtyrer, nach Choralversen und aus den Apokryphen, von Michael Töpel am 9. November 2024 in der Propsteikirche Herz Jesu.

Es ist ein gemeinsamer Verdienst der katholischen Pfarrei „Zu den Lübecker Märtyrern“, besonders der Propstei Herz Jesu und der evangelischen Luthergemeinde, dass die vier „Lübecker Märtyrer“ nach wie vor im Bewusstsein der Lübecker präsent sind, durch außerordentlich intensive, eindringliche Gedenkstätten in den beiden Kirchenräumen, aber auch durch zahlreiche Veranstaltungen. Bei der Kantate „Wo es keine Trauer mehr gibt“ handelt es sich um einen Kompositionsauftrag, der in allerbester ökumenischer Intention an den Lübecker Komponisten Michael Töpel vergeben wurde.

In der katholischen Hauptkirche Lübecks „Herz Jesu“ waren Kaplan Johannes Prassek, Vikar Hermann Lange und Adjunkt Eduard Müller zur Zeit des Nationalsozialismus tätig, an der evangelischen Lutherkirche der Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink. Diese vier Geistlichen hatten sich öffentlich gegen die menschenverachtende Ideologie des nationalsozialistischen Regimes ausgesprochen, hatten in Predigten, Gesprächen und auch in Taten versucht, dieser Ideologie der Unbarmherzigkeit, der Willkür, des Hasses, der Gewalt christliche Werte entgegenzustellen. Sie waren damit weit über die offizielle Haltung der Kirchen hinausgegangen und bezahlten das mit monatelanger Haft unter allerschlimmsten Bedingungen. Am 10. November 1943 wurden sie im Abstand von jeweils drei Minuten mit dem Fallbeil hingerichtet.

Es gibt erhaltene Briefe und aus dem Gefängnis geschmuggelte Berichte. Daraus hat Michael Töpel die grundlegenden Texte für seine Märtyrer-Kantate gewählt. Es sind erschütternde Zeugnisse, die uns auch oder gerade heute ganz und gar treffen. Michael Töpel schreibt im Programmheft: „Aber auch die alltägliche Situation eines Gefangenen, der mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen konnte, dass ihm die Todesstrafe droht, muss Teil dieser Kantate sein! Der aus dem Gefängnis geschmuggelte Kassiber von Kaplan Johannes Prassek ist schonungslos in seiner Wortwahl. Erschreckend anschaulich beschreibt er das von grauenvoller Verpflegung, ständigem Hunger und prekärem gesundheitlichem Befinden geprägte Gefängnisdasein. Bei der Musikalisierung einer solchen Schilderung ist Bel Canto unangemessen. Angemessen ist hier die unterhalb des Gesangs rangierende Form der Rezitation, zu der die Instrumente eine zumeist sehr dezente Begleitung spielen. Eine Ästhetisierung des Grauens, des Schreckens ist kein Anliegen dieser Kantate! Ebenso werden die Lübecker Märtyrer nicht zu lebensfernen Ikonen stilisiert.“

Und in der Tat, von einer Ästhetisierung des Grauens ist diese Komposition weit entfernt. Ganz im Gegenteil. Töpel verwendet zwar alte Formen und immer wieder tauchen Elemente des Chorals „Sonne der Gerechtigkeit“ auf, aber die musikalischen Mittel dringen allesamt direkt in das Wesentliche vor. Ob es Randlagenkontraste im Klavier sind, quälend-unwirkliche Flageolett-Töne der Streicher, nicht vollendete Linien oder die Verfremdung, Störung vermeintlicher Wohlklänge – der Hörer ist mitten hineingenommen in das entsetzliche Geschehen, das über 80 Jahre zurückliegt. Der geschmuggelte Kassibertext von Kaplan Johannes Prassek wird zu sparsamer Instrumentalbegleitung rezitiert. Andrea Stadel tat dies mit bedrückender Eindringlichkeit. Das Gefühl der Beklemmung lässt beim Hören dieser Kantate nie nach. Ein Hadern mit Gott ist da fast einfacher zu ertragen als die letztlich von allen vier Geistlichen zum Ausdruck gebrachte völlige Hingabe an Gott. Die Brieftexte sang Andrea Stadel stimmgewaltig mit größtem Ausdruck. Vier ganz ausgezeichnete Mitglieder der Lübecker Philharmoniker bildeten das Streichquartett: Tzu-Jen Chou, Violine I, Kayako Bruckmann, Violine II, Christopher Sandberg, Viola und Caroline Metzger, Violoncello. Sie saßen auf der Stuhlkante und waren mit dem Herzen bei der Sache. Ebenso Annette Töpel am Klavier, sie spielte und begleitete kraftvoll und einfühlsam. Stimmgewaltig, unglaublich wandlungsfähig sang Andrea Stadel die Texte der Briefe, die Kompositionen enthalten keinerlei Schnörkel, sind ganz stark an den Texten orientiert. Ein Höhepunkt in der Komposition Töpels ist im Klangbrief für Sopran, Viola und Klavier nach der Agonie „An der Schwelle zur Ewigkeit“ der Aufschrei „Tod, wo ist dein Stachel, Tod, wo ist dein Sieg“. Nachdem beim letzten Gebet nach quälenden Halbtonverschiebungen und ganz starken Glaubensaussagen Andrea Stadel singend durchs Kirchenschiff geschritten war, verklang in Anlehnung an den Eingangssatz „Nachtbarke“ die „Sonnenbarke“ sehr kurz, im Unhörbaren.

Ohne Zweifel, diese Komposition ist in jeder Hinsicht etwas ganz Besonderes. Kompositorisch und dramaturgisch wird deutlich, dass man sich vielleicht nur mit Demut, aber immer mit Achtung und Respekt an das Bearbeiten solch schlimmer Zeiten heranwagen kann.

Das ganze Konzert wurde anfangs ergänzt durch die Deutsche Messe für Sopran und Klavier vom langjährigen Lübecker Domorganisten Erwin Zillinger (1893-1974) und Adagio und Fuge c-Moll KV 546 für Streichquartett von W.A. Mozart. Beide Werke passten durch ihre individuelle Prägnanz ausgesprochen gut zum sensiblen Thema der Märtyrer-Kantate.

Seit 2017 gehören die neun katholischen Gemeinden Lübecks, unter anderem auch die Propstei Herz Jesu zur Lübecker Pfarrei „Zu den Lübecker Märtyrern“. Es lohnt sich, sowohl in den Webseiten dieser Pfarrei als auch der evangelischen Lutherkirche nach weiteren Veranstaltungen zu suchen: www.katholische-pfarrei-luebeck.de und www.lutherkirche-luebeck.de. Ebenso empfehlenswert ist die Seite des Erzbistums Hamburg über die Lübecker Märtyrer www.luebeckermaertyrer.de. Am heutigen Sonntag, um 11 Uhr, wird in einer „2. Uraufführung“ auch in der Lutherkirche die Kantate von Michael Töpel aufgeführt.

Die Musiker waren mit ganzem Herzen bei der Sache.

Die Musiker waren mit ganzem Herzen bei der Sache.


Text-Nummer: 169328   Autor: Svea Regine Feldhoff   vom 10.11.2024 um 08.39 Uhr

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