Grandios: Händels Oper „Semele“
Lübeck: Auf „Die Passagierin“ folgt binnen vier Wochen das zweite Opern-Ereignis, das Lübeck in die Reihe großer Häuser stellt: Georg Friedrich Händels „Semele“. Einst in London ein Erfolg, vor wenigen Jahren wiederentdeckt und nun aufregend in aufregende Zeiten des 20. Jahrhunderts transponiert, ist das unter dem Dirigat von Takahiro Nagasaki ein Abend, den das Publikum zu Recht bejubelt.Was macht man aus einem antiken Stoff, der im Barock Mode war, heute aber keinen Teenager mehr vom Smartphone weglockt? Man holt ihn heran an eine Zeit, die uns noch fassbar ist. So wird aus der sterblichen jungen Semele, die unsterblich werden möchte und sich an Gott Jupiter macht, eine Marilyn, die einen Studio-Boss anmacht. Wer aber nach den Sternen greift, muss erfahren, dass dort die oberen Zehntausend eine verschworene Gemeinschaft sind und wo Moral ein Fremdwort ist – und wird vom Sternchen zur Sternschnuppe.
Der englische Regisseur Stephen Lawless, der an der Beckergrube Jahr um Jahr intelligente Inszenierungen präsentiert, fesselt nun auch mit „Semele“. Da gibt es keine Plattitüden, ist keine Szene ohne Sinn: Semele, die sich zunächst an der Rampe im Familienzwist behauptet, wird unversehens auf die Bühne und in den Jetset katapultiert – schon hier auch unter bester Assistenz von Video (Andreas Beier) und Licht (Falk Hampel). Das Publikum merkt auf, wie vor seinen Augen die sagenhafte Antike moderne Gestalt(en) annimmt. Die Zitate von Lawless und seinem Ausstatter Ashley Martin-Davis sind nicht klischeehaft, sondern – bei gelegentlich optischer Drastik – Sinnbild für die Entwicklung eines Menschen. Und wie er fallengelassen wird.
Überragend hierbei die junge kanadische Sopranistin Sophie Naubert in der Titelpartie: Wie sie aus der jungen Semele langsam eine Marilyn Monroe entwickelt, vom naiven Übermut dann auf riesigem Bett in die Abhängigkeit gerät, reißt allein schon schauspielerisch mit – und wird überstrahlt von ihrem frischen Sopran, der jeder Note und vor allem den Koloratur-Anforderungen mühelos gewachsen ist. Der Beifallssturm für sie am Ende war riesig.
Händel, dieser große Operndramatiker, stellt an alle Sänger höchste Ansprüche, die sie hier ebenso souverän erfüllen wie Lawless' szenische Ideen. Frederick Jones kehrt in der Partie des Jupiter den Boss raus und kann sich auf seinen wohlgrundierten Tenor verlassen. Die Frauen um ihn zeigen ihre Klauen auch in irrwitzigen Koloraturen: Laila Salome Fischer (Juno/Ino) mit gurrendem Mezzo, Andrea Stadel (Iris) mit schnippischem Sopran. Delia Bacher (Athamas) berührt mit ihrem zarten Alt. Florian Götz (erst aufgebrachter Vater Cadmus, dann eingefrorener Gott Somnus) setzt seinen kernigen Bass mühelos ein.
Präzisionsarbeit leistete auch Jan-Michael Krüger, der dem Chor die Spannkraft vermittelte, um Martin-Davis' Bühnenbild auszufüllen – hier gravitätisch, dort als übermütige Hippie-Kommune. Denn Lawless entführt mit vielen (immer wieder) überraschenden Ideen in die Kennedy-Zeit, in eine USA, wie sie, fast unheimlich, wieder Gegenwart wird. Was dabei die Moral ist, kann jeder Besucher sich selbst beantworten.
„Semele“ ist lang, wie die oberen Zehntausend in London es seinerzeit liebten und auch die Rezitative genossen. Doch was in der Partitur steht, ist melodiös und spannend, auch einmal sinnend und für unser Empfinden gelegentlich etwas langatmig. Aber Händel packt immer wieder durch seine Rasanz und den Instinkt für die Szene. Und Takahiro Nagasaki – vom Cembalo aus dirigierend – weiß einmal mehr den Klang zu formen, die Akzente zu setzen und alle mitzunehmen. So folgt das Orchester dem Linearen ebenso wie es das Melodische fein zeichnet und den Effekt auf die Spitze treibt. Vom erzählenden Continuo bis zum emotionalen Tutti-Ausbruch zeigen sich die Philharmoniker fit im Barock und steigern sich unter Nagasakis inspirierender Leitung in einem wieder einmal großen Opernabend. Die Begeisterung im Parkett und auf den Rängen war am Premierenabend groß und einmütig wie selten.
Die moderne Geschichte von Semele, gespielt von Sophie Naubert, begeisterte am Theater Lübeck das Publikum. Fotos: Olaf Malzahn
Text-Nummer: 169470 Autor: Güz. vom 16.11.2024 um 17.10 Uhr