Lucia di Lammermoor: Wahnsinn inmitten einer Männerwelt

Lübeck - Innenstadt: Donizettis Oper „Lucia di Lammermoor“ gilt als Inbegriff der Belcanto-Oper – ein Werk, das musikalische Virtuosität und emotionales Drama in den Vordergrund stellt, dabei jedoch inhaltlich keine gesellschaftspolitische Tiefe anstrebt. Im Gegenteil: Die Geschichte an sich ist so flach und vorhersehbar. Böse gesagt ging es Donizetti allein darum, das damals höchst beliebte Genre des historischen Schauerromans gewinnbringend auf die Opernbühne zu verfrachten – was ihm zugegebenermaßen gelang.

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Aber genau deshalb ist die neue Inszenierung im Stadttheater Lübeck umso bemerkenswerter, als sie Donizettis Oper in einen aktuellen Kontext stellt und einen Zeitgeist beleuchtet, der Frauen in Kunst und Medien oft als passive Objekte männlicher Begierde oder Kontrolle präsentiert. Der Aufführung gelingt es auf eindrucksvolle Weise, Lucias Tragödie nicht nur als individuelles Schicksal, sondern als Ausdruck struktureller Unterdrückung weiblicher Selbstbestimmung und öffentlicher Zurschaustellung zu zeigen. Hinzu kam ein musikalisches Ensemble, das den Abend in toto zu einem Erlebnis werden ließ.

In der Titelrolle der „Lucia“ brillierte Sophia Theodorides, die mit dieser Partie bereits an Häusern wie dem Theater Osnabrück, dem Opernhaus Zürich und der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf zurecht gefeiert wurde. Ihre stimmliche Leistung ist schlicht bestaunenswert: Das reiche, runde Timbre ihres schlanken, flexiblen Soprans ist geradezu bezaubernd, und mit höchster technischer Präzision und emotionaler Tiefe durchmisst sich auf geradezu staunenswerte Art alle Farben ihres Fachs – von kraftvoll strahlendem Fortissimo bis zu innigstem, beinahe zerbrechlichem Pianissimo selbst in den höchsten Lagen, dabei stets rein und sicher in der Intonation. Besonders in der Wahnsinnsarie gelang ihr an diesem Abend eine beängstigend-schöne Darstellung innerer Auflösung, die musikalisch wie darstellerisch zutiefst berührend war. Dabei wurde sie von einfühlsam wirkenden Dirigenten Takahiro Nagasaki, 1. Kapellmeister des Hauses, kongenial begleitet. Mit seiner flexiblen Agogik schuf er ihr einen atmenden, stützenden Klangraum, der es Theodorides ermöglichte, Koloraturen und Kadenzen präzise zu gestalten und jede Phrase voll auszusingen. Überhaupt zeigten die Musiker des Philharmonischen Orchesters an diesem Abend unter Nagasakis Stabführung eine beeindruckende Leistung, die die hohe Qualität dieses Klangkörpers einmal mehr erkennen ließ. Nagasaki und das Orchester trugen das gesangliche Ensemble wie auf Händen durch einen wundervollen Abend.

Jacob Scharfman als „Enrico“ stand seiner Kollegin in nichts nach und lieferte eine überwältigende Leistung – stimmlich kraftvoll, mit markantem Bariton und eindrucksvoller Bühnenpräsenz. Sein Enrico ist kein eindimensionaler Bösewicht, sondern ein Mann, getrieben von Angst um sein Ansehen und von dem verzweifelten Wunsch, Kontrolle über eine zerbrechende Ordnung zu bewahren. Seine Welt darf kein Zögern kennen, keinen Raum für Sanftheit, nicht einmal seiner Schwester gegenüber. Alles, was nicht in sein Bild passt, muss von Anfang an gnadenlos zerpflückt und zerdrückt werden. Es war ein Erlebnis zu sehen, wie Scharfman es meisterhaft gelang, diese innere Brutalität eben nicht brutal darzustellen, sondern mit einer dunklen Eleganz in Klang und Körpersprache zu füllen.

Ihm zur Seite standen Konstantinos Klironomos als „Edgardo“ und Geliebter der Lucia, mit einem wundervoll herben Tenor voller lebendiger Kraft, sowie Changjun Lee als „Raimondo“, der Erzieher Lucias. Sein tragender Bass und seine stimmliche Souveränität gaben dieser Rolle gerade durch seine etwas kantigere Klangfarbe eine spannende Facette, weniger als geistlicher Vertrauter der Lucia, sondern mehr als vermittelnde Kraft inmitten der eskalierenden Konflikte. Doch gerade seine Milde und sein Zögern machen ihn letztlich machtlos. Trotz aller geistlichen Autorität bleibt er ein Teil des Systems, das Lucia zugrunde richtet – und kann, so bewegend sein Gesang auch ist, ihr Schicksal nicht abwenden. Und auch Noah Schaul als „Arturo“ mit seinem hellen Tenor, Delia Bacher als „Alisa“ mit ihrem wunderschönen dunkel timbrierten Mezzosopran und der Tenor Wonjun Kim als „Normanno“ bereicherten den Abend auf beglückende Weise.

Bejubelter Höhepunkt des Abends aber war zu Recht die Wahnsinnsszene, in der Sophia Theodorides – wie von Donizetti ursprünglich vorgesehen – von einer Glasharmonika begleitet wurde, und nicht wie sonst häufig üblich von einer Flöte. Dies gab der ganzen Szenerie etwas Transzendentes, geradezu Körperloses. Dies ist keine Lucia, die sich dem Wahnsinn hingibt, sondern eine Titelheldin, die aus dem Wahnsinn einer archaischen Männerwelt heraustritt und zu einer eigenen Selbstbestimmung gelangt, was sich in geniale Weise in die großartige Inszenierung von Anna Drescher (unter Mitwirkung von Maximilian Hagemeyer) einfügte.

Beklemmend und düster droht von Anfang an im Hintergrund eine steile schwarze Treppe. Hier regiert die wehrhaft-höfische Gesellschaft auf Schloss Ravenswood, dargestellt durch den Chor, der hier nicht nur als stimmliche Masse fungiert (ausgezeichnet einstudiert von Jan-Michael Krüger), sondern als ständige, bedrohliche Präsenz auf der Bühne wirkt. In archaisch, fast inhuman anmutenden Männerkostümen verkörpert er eine kollektive männliche Machtstruktur, die wie ein stummer, aber umso wirksamerer Blickkörper permanent über Lucia wacht. Der Eindruck eines allgegenwärtigen Voyeurismus wird so fast körperlich spürbar: Diese männliche Gesellschaft sieht, bewertet, kontrolliert. Und vor allem ergötzt sich die Gesellschaft an seiner Rolle, wie Drescher gleich zu Beginn unverhohlen zu zeigen scheint. Doch nicht zum letzten Mal wird dem Publikum damit selbst ein Spiegel vorgehalten, denn wenn sich die Choristen umdrehen, haben sie mitnichten das in den Händen, was alle erwartet hatten. Oder doch?

Überhaupt wird deutlich, wie schwer es ist, einer all präsenten männlichen Dominanz zu entgehen. Zwar präsentieren Lucia und ihre Vertraute Alisa in ihrer Anfangsszene mit kraftvollen, roten Kleidern ein paar Farbakzente in einer ansonsten düsteren, fast leblosen Welt. Doch die scheinbare Lebendigkeit der Frauen in ihren fließenden, wehenden Stoffen entlarvt sich schnell als trügerisch – die Uniformität ihrer Kleider verweist eher auf Anpassung als auf Individualität. Und nicht erst mit dem Wechsel ins glitzernde Brautkleid werden die Frauen hier dem Publikum entblößend zur Schau gestellt – ein visuelles Ausrufezeichen, das den „male gaze“ nicht nur thematisiert, sondern ihn direkt an die Zuschauer zurückspiegelt: „Wohin schaust du?“ Und dann dieses Brautkleid: prachtvoll glitzernd, geradezu blendend und überladen, prunkvoll ist es vor allem eine Zwangsjacke, die ihrer Trägerin jede Bewegungsfreiheit raubt. Was als Aufstieg ins gesellschaftliche Ideal erscheint, erweist sich als totale Erstarrung. Lucia wird zu einer Braut gemacht, die innerlich längst zu entgleiten beginnt und ihre „gute Seele“ verliert, während außen noch alles glitzert und glänzt. Dieses Brautkleid ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kostüm, das nur dazu dient, der Gesellschaft etwas zum Anfassen und zum Zerren zu geben.

Die größte Bildstärke aber erreicht die Inszenierung in der Wahnsinnsarie. Nicht blutüberströmt tritt Lucia aus dem Hochzeitszimmer, in dem sie soeben Arturo getötet hat, sondern blütenweiß, unschuldig. Nicht Arturo ist das Opfer, jener kalt grinsende Sonnyboy, für den Lucia eh nicht mehr ist als eine Trophäe in einem mörderischen Machtspiel. Es ist vielmehr Lucia als Sinnbild eines unausgesprochenen Übergriffs und tiefgreifender systematischer Gewalt, die langsam von innen heraus verwundet ist und zerstört wird. Erst ein wenig, dann immer mehr, vor allem aber unablässig. Und doch schafft Lucia es, diese innere Vergewaltigung zu überwinden und sich selbst zu finden. Gezeichnet, aber dennoch mit aufrechter Haltung auf einem Stuhl sitzend, stolz, frei, unerreichbar, den Blick mutig nach vorn gerichtet.

Am Ende zurecht Jubel und stehende Ovationen für einen musikalisch wie szenisch großartigen Opernabend, der dringend zum Besuch empfohlen wird!

Für die Premiere am Theater Lübeck gab es stehende Ovationen. Fotos: Olaf Malzahn

Für die Premiere am Theater Lübeck gab es stehende Ovationen. Fotos: Olaf Malzahn


Text-Nummer: 172649   Autor: UWi   vom 10.05.2025 um 16.32 Uhr

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