Eindrucksvolles 8. Sinfoniekonzert: 2x Mozart und 1x Wilms
Lübeck: Am Sonntag und Montag findet das 8. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck in der MuK statt. "Leonskaja berührt mit Mozart, im Duo mit Berecz entsteht ein generationenübergreifender Dialog – und De Vriend entdeckt mit dem Orchester die emotionale Tiefe von Wilms’ kraftvoller 6. Sinfonie – spannend und klangvoll", so der Eindruck vom Konzert am Sonntag.Mozarts Klavierkonzert Nr. 24 in c-Moll, eines seiner dunkelsten und tiefgründigsten Werke, stand gleich zu Beginn des 8. Konzerts des Philharmonischen Orchesters in der sehr gut besuchten Musik- und Kongresshalle – und setzte einen eindrucksvollen, geradezu berührenden Akzent. Die gefeierte Elisabeth Leonskaja am Klavier und Jan Willem de Vriend am Pult wählten für ihre Interpretation eine ruhige, nach innen gerichtete Haltung – und trafen damit einen Ton, der das Publikum von der ersten Minute an fesselte.
Das Orchester präsentierte sich unter de Vriends Leitung hoch konzentriert und bestens abgestimmt. In der eröffnenden Orchestereinleitung zeichnete sich bereits der Charakter des Abends ab: statt vordergründigem Pathos ein durchhörbarer, klar geformter Klang, mit bewusster Zurückhaltung und innerer Spannung. De Vriend erwies sich als ein Dirigent mit feinem Gespür für Balance und Tempo – immer aufmerksam gegenüber der Solistin, stets in enger Verbindung mit dem musikalischen Fluss. Bemerkenswert ist, dass de Vriend sich beim heutigen Konzert für den Einsatz von Naturhörnern und Naturtrompeten entschied, also Instrumenten ohne Ventile. Deren Spiel erfordert von den Musikern ein hohes Maß an Können – jeder Ton muss allein mit Lippenspannung und Ansatz exakt getroffen werden. Doch der Aufwand lohnte sich, auch dank der Instrumentalisten: Der Klang war schlanker, kantiger, farbiger – und brachte das Publikum ein Stück näher an die historische Klangwelt heran, wie Mozart – und auch der später noch erklingende Wilms – sie selbst wohl im Ohr gehabt haben könnte.
Elisabeth Leonskaja, die seit Jahrzehnten zurecht zu den gefeierten großen Pianistinnen unserer Zeit gehört, entfaltete ihren Part mit weichem, rundem Anschlag, voller Ruhe und klanglicher Tiefe. Sie ließ das Virtuose hinter dem Ausdruck zurücktreten und formte die Phrasen mit einer Selbstverständlichkeit, die berührte. Ihre Interpretation suchte nicht die große Geste, sondern die Essenz – gerade im ersten Satz wurde deutlich, wie eng die Solistin, Dirigent und Orchester hier miteinander verbunden waren. Die Abstimmung war exzellent: keine Dominanz, sondern ein musikalisches Gespräch auf Augenhöhe.
Das Larghetto spielte Leonskaja mit einer Schlichtheit und Wärme, die den lyrischen Charakter des Satzes vollkommen zur Geltung brachte. Das Orchester begleitete mit großer Feinfühligkeit – nie nur unterstützend, sondern mitgestaltend, atmend, fast kammermusikalisch innig. Und auch im Rondo des Finalsatzes blieb diese Geschlossenheit bestehen. Leonskaja gestaltete ihn mit klarem Ausdruck, nie überdeutlich, aber dafür mit überraschender Kraft, sondern stets organisch, wunderbar gestützt von einem sehr präsenten Orchester. Die zweite Kadenz schließlich – ruhig, fast nachdenklich – verlieh dem Werk zum Schluss noch eine zusätzliche Dimension: ein Moment der lebensreifen Reflexion, fern jeder Effekthascherei. Zu Recht brandeten nach dem letzten Akkord Bravo-Rufe auf – ein seltener Moment, aber berechtigt, wenn bereits das Eröffnungswerk für nachhaltige Begeisterung sorgt. Eine Aufführung von hoher künstlerischer Dichte, getragen von Vertrauen, musikalischer Reife – und echter Partnerschaft.
Nach diesem eindrucksvollen Auftakt folgte ein weiteres Mozart-Konzert, nämlich jenes für zwei Klaviere und Orchester in Es-Dur KV 365, bei dem sich die inzwischen fast 80-jährige Elisabeth Leonskaja mit dem jungen, 1997 geborenen ungarischen Pianisten Mihály Berecz das Podium teilte. Berecz, der bereits mit Preisen wie dem Liszt-Bartók-Preises beim Concours Géza Anda in Zürich auf sich aufmerksam gemacht hat, erwies sich als kongenialer Partner – und mehr noch: Es entstand ein musikalischer Dialog, wie man ihn in dieser Intensität selten erlebt. Fast schien es, als fände hier ein Gespräch zwischen zwei Generationen statt – respektvoll, neugierig, voller Spannung und gegenseitiger Achtung. Berecz’ Spiel war von einem helleren, klareren Anschlag geprägt – etwas härter als Leonskajas weicher, runder Ton, aber nie schroff. Im Gegenteil: Sein transparenter Zugriff verlieh dem Werk Leichtigkeit und Frische, während Leonskaja mit Reife, Gelassenheit und warmem Klang die emotionale Tiefe betonte. Aus diesem Zwiegespräch entwickelten sie gemeinsam ein fein austariertes Wechselspiel – nicht im Sinne bloßer Virtuosität, sondern wie ein gemeinsames Erzählen, Beleuchten, Ergründen, bei dem jeder Satz, jeder Blick und jedes Innehalten Bedeutung hatten.
Das Orchester unter Jan Willem de Vriend spielte dabei eine entscheidende Rolle: nicht nur begleitend, sondern stets dialogbereit, aufnehmend, Raum gebend. De Vriend hielt die Fäden in der Hand, ohne sie je zu straff zu ziehen, und ermöglichte so ein Zusammenspiel, das nicht nur abgestimmt, sondern lebendig wirkte. Besonders im langsamen Mittelsatz schien sich die Atmosphäre fast zu verdichten: ein zartes Miteinander, bei dem die Unterschiede der beiden Pianist:innen nicht als Kontrast, sondern als Ergänzung spürbar wurden. Geradezu atemlos lauschte das Publikum den verklingenden Tönen dieses Satzes. Und dann, fast gegen Ende des folgenden Finalsatzes, leichtfüßig und doch voller Substanz, war sie plötzlich da – jene Ahnung von Innigkeit, die das Konzert auf wunderbare Weise kulminieren ließ. Als würden sich ganz leise „heimliche Liebesfäden spinnen“, wie Theodor Storm in seinem Gedichte „An dÃe Freunde“ schrieb. Da blitzte und blinkte es geradezu zwischen Leonskaja und Berecz. Und wie freundschaftlich sich diese beiden zugewandt sind, zeigten sie dem Publikum im Anschluss als Zugabe mit zwei „Ungarischen Tänze“ von Brahms.
In der zweiten Konzerthälfte stand eine echte Rarität auf dem Programm: die 6. Sinfonie von Johann Wilhelm Wilms (1772 – 1847), einem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Komponisten, der zu Lebzeiten in den Niederlanden große Bekanntheit genoss. Als Zeitgenosse Beethovens ging Wilms eigene Wege – weitab vom „wienerischen“ Idiom, das die damalige Musikwelt prägte. Seine Musik ist auf eine eigene Art moderner, lyrischer und weist Farben eines Franz Schuberts auf, ohne dessen Schatten zu sein. Die 6. Sinfonie aus dem Jahre 1820 ist ein beeindruckendes Zeugnis dieser Eigenständigkeit. Zwar erkennt man in der formalen Anlage noch die Orientierung an Haydnscher Klarheit – aber stilistisch hat sich Wilms hier bereits deutlich gelöst. Statt wienerischer Noblesse klingt es bei ihm kantiger, individueller – ein aufkommender romantischer Ton, mit einer greifbaren Hinwendung zum Ausdruck, zur Innerlichkeit.
Jan Willem de Vriend entfaltete den Zauber dieser Sinfonie mit sichtbarer Begeisterung. Seine tänzerische Körpersprache gestaltete, forderte, beflügelte, motivierte, ohne Taktstock in der Hand. Und so von allem Taktieren befreit reagierte das Orchester mit spürbarer Neugier. Es war, als ob auch die Musiker selbst forschend unterwegs waren nach Entdeckungen am Übergang von der Klassik zur Frühromantik, dort, wo Gefühl und Form erstmals in ein neues Gleichgewicht traten. Besonders im zweiten Satz zeigte sich, wie weit Wilms seiner Zeit voraus war: Die Themen wurden in wunderbar gespannten, langen Bögen phrasiert, das Orchester ließ die Musik atmen, erzählerisch und weit ausgreifend – und dabei schon so reif und weit entfernt von der damaligen Wiener Tradition, die solche Ausdrucksweite allmählich für sich zu entdecken begann. Das folgende Scherzo geriet zum wilden Aufbruch: mehr Furioso als höfischer Tanz, mit seiner impulsiven Energie eine geradezu niederländische Klanglandschaft – stürmisch wie eine aufgewühlte Nordsee, an der Wilms gelebt hat. Und auch das Finale – formal ein Kehraus – überraschte: rasant, ja, aber technisch ausgeklügelt, mit komplexer Stimmenführung und rhythmischer Finesse. Was bei Haydn noch leichtfüßige Schlusslaune war, wurde hier zu einer Meisterleistung: pointiert, anspruchsvoll und mitreißend musiziert.
Diese Aufführung der 6. Sinfonie von Johann Wilhelm Wilms war nicht nur eine musikhistorische Entdeckung, sondern ein mitreißendes Plädoyer für Repertoire abseits der bekannten Namen. De Vriend und das exzellent aufgelegte Philharmonische Orchester machten deutlich, welch künstlerisches Potenzial in diesem Werk steckt – so lebendig, eigenständig und frisch, dass man sich wünscht, Wilms und mehr seiner unbekannten Zeitgenossen mögen bald häufiger auf den Konzertprogrammen erscheinen.

Elisabeth Leonskaja fesselte das Publikum vom ersten Ton an. Foto: Julia Wesely
Text-Nummer: 172809 Autor: Ulrich Witt vom 18.05.2025 um 15.47 Uhr