Carmen – Femizid, Freiheit und toxische Beziehungen

Lübeck: Die aktuelle Inszenierung "Carmen" am Stadttheater Lübeck überzeugt mit klarem Blick auf Femizid und toxische Beziehungen. Musikalisch und szenisch auf höchstem Niveau zeigt sie Bizets Carmen in ungewohnter, packender Deutlichkeit.

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Georges Bizets Carmen, 1875 in der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt, kam dem Skandal nahe. Dies lag weniger an der (auch in der Urfassung) unbestritten brillanten Partitur, die rhythmisch lebendig, farbenreich instrumentiert und voller kontrastreicher Stimmungswechsel zwischen leidenschaftlicher Dramatik und tänzerischer Leichtigkeit ist, als vielmehr an der Figur der Carmen selbst. Die Oper stellte mit ihr ein Frauenbild entgegen, das der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein Dorn im Auge war: Carmen verkörpert die freie, selbstbestimmte, sinnliche und eigensinnige Frau, die mit den damals üblichen Rollenbildern von Bescheidenheit, Fleiß und Selbstverleugnung radikal bricht. Sie ist die archetypische femme fatale, die am Ende von Don José ermordet wird – ein tragisches Opfer, aber auch eine Provokation.

Während die frühe Rezeption häufig den folkloristischen Charme und das spanische Kolorit hervorhob, um die düstere Geschichte zu entschärfen, befreit die aktuelle Inszenierung von Philipp Himmelmann am Stadttheater Lübeck Carmen von diesem dekorativen Zuckerguss. Stattdessen rückt die Produktion den Mord an Carmen als prototypischen Femizid in den Mittelpunkt und macht die Oper zu einem schonungslosen Spiegel gesellschaftlicher Realitäten.

Himmelmann verzichtet auf romantisierende Verklärung und lässt die Geschichte rückblickend in Form einer Abwärtsdynamik entfalten, die José und Carmen scheinbar unentrinnbar in einen Strudel aus Macht, Besitzansprüchen und Gewalt zieht. Dabei steht der Mord an Carmen gleich zu Beginn der Inszenierung als unausweichliches Ereignis, dessen Ursachen im patriarchalen Machtverhältnis liegen: Carmen stirbt nicht, weil sie José materiell oder emotional „alles genommen“ hat, sondern weil sie sich gegen ihn entscheidet und ihre Freiheit behauptet – eine Freiheit, die José nicht akzeptieren kann. Er liebt nicht partnerschaftlich, sondern will besitzen, herrschen und kontrollieren. Die Inszenierung zeigt diese Dynamik in aller Klarheit und vermeidet einfache Täter-Opfer-Zuschreibungen, indem sie auch José als einen zutiefst psychisch verletzten, aber nicht entschuldbaren Menschen zeichnet.

Stimmlich und darstellerisch beeindruckt Konstantinos Klironomos als Don José durch seine nuancierte Gestaltung einer Figur, die den Zwiespalt zwischen Sehnsucht, Besessenheit und innerem Zerfall überzeugend vermittelt. Seine lyrisch-dramatische Tenorstimme überzeugt in den zarten Passagen ebenso wie in den dramatischen Ausbrüchen und ergänzt sich organisch mit der Bühnenpräsenz, die dem Charakter Tiefe und Glaubwürdigkeit verleiht.

Ieva Prudnikovaite wiederum gelingt es, eine facettenreiche Carmen zu präsentieren: nicht nur als Symbol weiblicher Selbstbestimmung und Stärke, sondern auch als von eigenen toxischen Beziehungsmustern nicht freie Frau. Ihr warmer, kraftvoller Mezzosopran ist ideal für die starke, temperamentvolle, zugleich aber auch verletzliche Gestalt der Carmen. Besonders bemerkenswert ist die Differenziertheit, mit der Prudnikovaite die Ambivalenzen des Charakters auslotet – etwa wenn Carmen von José fordert, für sie den Militärdienst zu verlassen, was weniger als neckisches Spiel, sondern als emotionale Bedingungslosigkeit interpretiert wird: „Bist du nicht für mich, bist du gegen mich.“ Damit wird klar, dass auch Carmen nicht frei von Macht- und Kontrollmechanismen ist, was das Stück umso komplexer und realistischer macht. Aber all das rechtfertigt eben nicht die Tat Don Josés.

Das Bühnenbild von Dieter Richter unterstützt diese Interpretation überzeugend: Spartanes Design, das die destruktive Dynamik der Figuren in den Vordergrund rückt und den Fokus auf das Menschliche, Zerbrechliche und Bedrohliche legt. Die optische Reduktion schafft Raum für die emotionale und psychologische Intensität der Handlung.

Ein weiterer künstlerischer Gewinn der Produktion ist die Rolle der Michaëla, die mit der Sopranistin Evmorfia Metaxaki eine komplexe und differenzierte Interpretation erfährt. Metaxakis silbrig-warmes Timbre verleiht Michaëla nicht nur klangliche Schönheit, sondern auch charakterliche Tiefe. Sie erscheint als moralischer Gegenpol zu Carmen, jedoch ohne naive Idealisierung. Die Figur ist ein Mensch mit eigenen Ambivalenzen, der dennoch für José keine Rettung mehr bringen kann.

Das Philharmonische Orchester unter Generalmusikdirektor Stefan Vladar erweist sich erneut als sensibler und klanglich flexibler Partner des Gesangsensembles. Vladars Leitung besticht durch rhythmische Präzision, feine dynamische Abstufungen und die Fähigkeit, die kontrastreichen Stimmungen der Partitur überzeugend zum Ausdruck zu bringen. Auch in den Nebenrollen ist die Besetzung vorbildlich: Besonders hervorzuheben ist Jacob Scharfman als Escamillo, dessen selbstbewusster, viriler und zugleich narzisstischer Torero die Bühne mit einem souveränen Charisma füllt und damit die Ambivalenz männlicher Rollenbilder im Stück weiter unterstreicht.

Diese Produktion gelingt nicht nur als musikästhetisch hochrangige Aufführung, sondern auch als zeitgemäße, kritisch reflektierende Auseinandersetzung mit einem Klassiker, dessen Aktualität kaum größer sein könnte. Carmen wird hier zur Oper über Machtverhältnisse, toxische Beziehungen und die fatalen Konsequenzen patriarchaler Besitzansprüche. In einer Zeit, in der Femizide weltweit traurige Realität sind, wirkt diese Bühnenfassung als dringlicher Appell und schonungsloser Spiegel gesellschaftlicher Abgründe. Zu Recht durfte das Ensemble stehende und lang anhaltende Ovationen für diese gelungene Produktion in Empfang nehmen.

Die Inszenierung von Carmen am Theater Lübeck überzeugt. Fotos: Jochen Quast

Die Inszenierung von Carmen am Theater Lübeck überzeugt. Fotos: Jochen Quast


Text-Nummer: 173474   Autor: Ulrich Witt   vom 21.06.2025 um 18.20 Uhr

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