Bürgerschaft: Neskovic warnt vor Bedeutungsverlust

Lübeck: Archiv - 18.01.2022, 10.42 Uhr: Der Vorsitzende der Fraktion21, Wolfgang Neskovic, vermisst eine lebendige und wertschätzende Debattenkultur in der Lübecker Bürgerschaft. CDU und SPD würden mit ihrer Kooperation immer wieder einen fairen und ergebnisoffenen Austausch von Argumenten ersticken. So werde die Bürgerschaft als wichtigstes kommunales Meinungsbildungsorgan verzwergt und verliere weiter an Wertschätzung in der Bevölkerung.

Wechselnde Mehrheiten könnten hier wirksame Abhilfe verschaffen. Seine Lösung: CDU und SPD sollten ihre Kooperation schleunigst beenden.

Wolfgang Neskovic im Wortlaut:

(")Zu Beginn der jetzigen Wahlperiode gab es keine festen Kooperationen zwischen den Bürgerschaftsfraktionen. Vielmehr fielen die Entscheidungen nach teilweise leidenschaftlichen Debatten. Die Herrschaft des Arguments besiegte die Herrschaft der Absprachen aus dem Hinterzimmer. Jede Fraktion hatte – unabhängig von ihrer Größe - die Chance, allein mit der Hilfe überzeugungskräftiger Argumente die notwendigen Mehrheiten zu erzielen. So konnte zum Beispiel eine Abschaffung der ungerechten Straßenausbaubeiträge nur mit wechselnden Mehrheiten erreicht werden. In einer Kooperation von CDU und SPD wäre das unmöglich gewesen. Bürgermeister Lindenau war seinerzeit ein erbitterter Gegner der Aufhebung der Straßenausbeiträge. Eine Entscheidung gegen das Veto von Lindenau hätte die Kooperation niemals getroffen.

Das Fundament der Kooperation von CDU und SPD beruht darauf, die Politik und die Entscheidungen von Bürgermeister Lindenau in der Bürgerschaft abzusichern oder besser gesagt: abzunicken. Dieses fehlgeleitete Politikverständnis bildet das Glaubenskenntnis der CDU/SPD-Kooperation. Fehlgeleitet ist dieses Politikverständnis deswegen, weil es der gesetzlichen und damit demokratischen Aufgabenverteilung zwischen Bürgermeister und Bürgerschaft widerspricht. Danach ist die Bürgerschaft für die Willensbildung zuständig, der Bürgermeister hingegen für die Willensausführung.

Diese Aufgabenverteilung widerspricht aber dem politischen Machtanspruch von Bürgermeister Lindenau. Er lebt in seinem Selbstverständnis von der unbeirrbaren (paternalistischen) Überzeugung, er wisse es besser als die Mehrheit der Bürgerschaft. Das Machtinstrument zur Umsetzung dieser Überzeugung ist die CDU/SPD-Kooperation. Bei dieser Ausgangslage wird die Bürgerschaft in ihrer Entscheidungspraxis weitgehend zu einem reinen Vollzugsorgan des Bürgermeisters degradiert. Unabhängig von dieser unsachgemäßen politischen Zielsetzung der CDU/SPD-Kooperation führt dieses Bündnis auch zu weiteren dem Gemeinwohl abträglichen Konsequenzen.

Insbesondere in den Ausschüssen kommt es immer wieder dazu, dass Entscheidungen vertagt werden, weil CDU und SPD sich im Hinterzimmer nicht einigen können. So werden zum Nachteil der Bürger und Bürgerinnen wichtige Entscheidungen auf die lange Bank geschoben. Aber auch dann, wenn sich die Kooperationspartner geeinigt haben, finden Gegenargumente anderer Fraktionen selten Berücksichtigung. Häufig drängt sich der Eindruck auf, dass diese gar nicht zu Kenntnis genommen, also schlicht ignoriert werden. Frei nach dem Motto: "Es kommt nicht darauf an, wer recht hat oder richtig liegt, sondern allein darauf an, wer die Mehrheit hat."

Ein solches Politikverständnis spiegelt zwar die tatsächlichen Machtverhältnisse wider, es offenbart aber gleichzeitig auch ein verkümmertes und zynisches Demokratieverständnis. Zum Wesen der Demokratie gehört nicht nur eine wertschätzende, streitbare Debattenkultur mit Gegenargumenten, sondern auch der Minderheitenschutz. Es entmutigt und führt zur politischen Apathie in der Bürgerschaft, wenn die Mitglieder anderer Fraktionen zu der Auffassung gelangen müssen, sie bräuchten sich erst gar nicht der Anstrengung zu unterziehen, Beschlussvorschläge der Kooperationspartner kritisch zu bewerten oder eigene Anträge einzubringen. Sie müssten vielmehr davon ausgehen, dass Gegenargumente oder Anträge anderer Fraktionen – von wenigen Ausnahmen abgesehen - bedenkenlos ignoriert würden.

Diese Geisteshaltung hat zum Beispiel in der letzten Bürgerschaft dazu geführt, dass ein Antrag, der zentrale Grundfragen von Bürgerschaftssitzungen zum Gegenstand hatte (Gesundheitsschutz von Bürgerschaftsmitgliedern und die Ausübung des freien Mandats bei Hybridsitzungen), mit den Stimmen von CDU und SPD zurückgewiesen wurde, ohne dass es ein Mitglied dieser Fraktionen für nötig befunden hätte, die ablehnende Haltung in der Debatte zu begründen. Das war arrogant und ignorant zugleich. Besonders krass wirkt sich diese Geisteshaltung bei Personalfragen aus. SPD und CDU teilen sich die Senatorenämter nach dem Motto "Nimmst du meinen, nehme ich deinen." Der Grundsatz der Bestenauslese bleibt so auf der Strecke. So verzichten hoch qualifizierte Bewerber auf eine Bewerbung oder kommen nicht zu offiziellen Vorstellungsrunden der Bürgerschaft, wenn sie von solchen Vereinbarungen erfahren.

Niemand darf sich bei dieser Sachlage darüber wundern, wenn bei den letzten Wahlen zur Lübecker Bürgerschaft die Wahlbeteiligung bei kümmerlichen 34,3 Prozent lag – ein landesweiter Tiefstwert. Und niemand darf sich wundern, wenn die Bereitschaft für die Bürgerschaft zu kandidieren, zusehends besorgniserregend schrumpft. Damit verliert die Lübecker Bürgerschaft nicht nur weiter an Vertrauen und Wertschätzung in der Bevölkerung und der damit verbunden Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, sondern sie verliert auch die Menschen, auf deren Engagement und Kompetenz Lübeck dringend angewiesen ist, wenn die schwierigen und komplexen Probleme unserer Stadt zum Wohle aller erfolgreich gelöst werden sollen.(")

Wolfgang Neskovic kritisiert die fehlende Debattenkultur in der Lübecker Bürgerschaft.

Wolfgang Neskovic kritisiert die fehlende Debattenkultur in der Lübecker Bürgerschaft.


Text-Nummer: 149484   Autor: Fr21/W.N/Red.   vom 18.01.2022 um 10.42 Uhr

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