Alle Schwestern sind Brüder

Lübeck: Archiv - 11.02.2023, 08.51 Uhr: Pastorin i.R. Ellen Naß geht in ihren Gedanken zum Wochenende auf ein kontroverses Thema ein: Gendern. Wie kann Sprache inklusiv werden? Ellen Naß wirft einen Blick auf die Bibel.

In meiner Studentenzeit vor vielen Jahrzehnten war ich einmal auf einer christlichen Freizeit. Bei einer Bibelarbeit wurde gefragt, warum viele Abschnitte mit der Floskel: "Liebe Brüder" beginnen, und wieso wir Frauen nicht berücksichtigt würden. Die Antwort war kurz und knapp und ich habe sie bis heute nicht vergessen: „Alle Schwestern sind Brüder.“

In den Neunzigern kritisierte dann jemand nach einer meiner Predigten, ich würde nicht „inklusiv“ predigen. Ich wusste erst gar nicht, was sie meinte, aber so lange gibt es diese Debatte schon. Es stimmt ja – redet jemand von einem „Arzt“, gehe ich von einem Mann aus, bei einer „Ärztin“ ist das anders. In meinen Anfangszeit gab es noch die „Frau Pastor“ - das war aber keine Pastorin, sondern die Ehefrau des Pastors. Es hat einige Jahre gedauert, bis sich die Unterscheidung durchgesetzt hat, und Pastorinnen nicht mehr mit der Ehefrau des Ortspastors verwechselt wurden.

Es ist kompliziert. Einerseits will man ja niemanden ausschließen – andererseits muss man ja auch noch zuhören können, wenn jemand redet. Ich kann mich an Situationen erinnern, in denen ich einfach abgeschaltet habe, weil ich das Diakone und Diakoninnen und Schüler und Schülerinnen nicht mehr ertrug. Damit ist auch niemand geholfen.

Die Bibel ist über einen langen Zeitraum entstanden, und die gesamte Zeit war im Grunde genommen patriarchalisch geprägt, es regierten die Interessen der erwachsenen Männer, jedenfalls der freien Männer. Frauen, Sklaven, Kinder, waren rechtlos, zum Teil so lange, wie der Vater noch lebte. Deshalb wurden auch nur die Brüder angesprochen, so, wie es uns das damals aufgefallen war.

Frauen sollten in der Gemeinde schweigen, zu Hause ihren Mann fragen, wenn sie etwas nicht verstanden hatten (ich habe mich immer gefragt, wieso davon ausgegangen wurde, dass der Mann das verstanden hatte und die Frau nicht, es hätte doch genauso gut umgekehrt sein können). Sie sollten im Gottesdienst ihre Haare bedeckt halten.

Wenn man aber zwischen den Zeilen liest, dann war vieles ganz anders. Jesus hatte nicht nur männliche Jünger, zum großen Entsetzen seiner Mitmenschen folgten ihm auch Frauen. Der erste Mensch, der in Europa durch Paulus zum christlichen Glauben fand, war eine Frau, Lydia, die Purpurhändlerin, die sich dann auch tatkräftig in der neuen Gemeinde engagierte. Es gab sogar ein eigenes Buch, das dann aber nicht in den biblischen Kanon mit aufgenommen wurde und dadurch fast unbekannt ist: die Apostelgeschichte des Paulus und der Thekla. Es erzählt von Abenteuern dieser Thekla mit und ohne Paulus.

Es wurde dann von einem Kirchenvater als Fälschung deklariert, weil sich Frauen, die predigen wollten, auf dieses Buch beriefen und es wurde fast vergessen, so wie es oft bei Dokumenten über Frauen geschieht, die etwas bewegten oder leisteten. Dass es dieses Buch gibt beweist aber, dass Frauen in der frühen Kirche nicht so unterwürfig und rechtlos waren, wie das manchmal dargestellt wird.

Geblieben ist uns aber ein Satz des Apostels Paulus selbst, der für mich mehr Gewicht hat als alle Gebote über Kleidung, Schweigen, Verhalten: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Galater 3, 28).

Dieser Satz steht über allem, mit diesem Wort können wir unsere Lebensverhältnisse immer neu überprüfen und anpassen. Und so wie niemand unter Christen die Sklaverei fordert, sollten wir auch die Unterordnung der Frau nicht mehr fordern. Inder neuesten Bibelübersetzung sind übrigens die „Brüder und Schwestern“ angesprochen, und es ist bestimmt im Sinne von Paulus. So einfach kann es manchmal sein, dass niemand mehr ausgeschlossen wird.

Es wird sicher noch lange Zeit Diskussionen geben über das Verhältnis von Mann und Frau, wie wir reden, denken und arbeiten sollen – aber wir sollten dabei nie vergessen, dass wir in Christus alle eins sind.

Das furchtbare Erdbeben in der Türkei und Syrien geschah, als ich schon angefangen hatte zu schreiben. Bitte schließen Sie die Menschen dort in Ihre Gebete mit ein und helfen Sie, wenn es möglich ist.

Pastorin i.R. Ellen Naß geht der Frage nach, wie Sprache inklusiv werden kann.

Pastorin i.R. Ellen Naß geht der Frage nach, wie Sprache inklusiv werden kann.


Text-Nummer: 156693   Autor: red.   vom 11.02.2023 um 08.51 Uhr

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