Eine Wucht: Simon Boccanegra

Lübeck: Archiv - 30.10.2023, 15.08 Uhr: Die gegenwärtige Aufführung von Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ zählt zu den Opern-Sternstunden in Lübeck. Man kann landauf, landab lange suchen, um einen Verdi vergleichbarer Qualität zu finden. Nach der Premiere im Mai ist das Werk nun wieder ein Erlebnis: Ensemble, Chor und Orchester unter Leitung von Takahiro Nagasaki bieten einen Abend allerbester Qualität – und kein Musikfreund sollte ihn versäumen.

Bild ergänzt Text

Die Handlung ist dramatisch, die Szene wie bei manchem großen Musiktheater düster – und die Musik zählt zum besten, was Verdi geschrieben hat. Nur wissen es viele kaum, weil „Simon Boccanegra“ nicht so spektakulär ist wie „Rigoletto“, „La Traviata“ oder „Aida“, und weil hier die großen Arien und Chöre eingebunden sind in einer Partitur voll dramatischer Wucht.

Das Werk beginnt statisch. Pamela Recinella benötigt wie jede Regisseurin einigen Anlauf, um dieses Vater-Tochter-Liebhaber-Drama im Palazzo Ducale des alten Genua szenisch auf Touren zu bringen. Erster Kapellmeister Takahiro Nagasaki und die Lübecker Philharmoniker brauchten in der zweiten Wiederaufnahme-Vorstellung auch eine Viertelstunde, bis sie sich warmgespielt hatten. Dann aber entfaltete die Aufführung all ihre Kraft, alle Schönheit der Musik und zeigte die Vielfalt der Charaktere.

Welches Haus hat schon diese Männerstimmen aufzubieten: Gerard Quinn, in der Premiere indisponiert, führt in der Titelpartie nun die große Reife seines Baritons mit mühelosem Registerwechsel auch in warme Höhen; Runi Brattaberg, in der Premiere krankheitshalber nicht dabei, imponiert als Jacopo Fiesco mit der Fülle seines Basses; Yoonki Baek (Gabriele Adorno) steigt auf zu stark berührenden weichen wie dramatischen Höhen. Als Gast lässt Flurina Stucki (Amelia Grimaldi) ihren Sopran wieder blühen – und zeigt mit Baek eindringliche szenische Präsenz. Auch die drei anderen Männerstimmen haben Format.

Groteskes Leben in diese Welt lässt Pamela Recinella den Chor bringen, der mit wirbelnder Dekadenz eines Hieronymos Bosch ein Spiegel des Heute ist – und der vokal wieder die sorgfältige Handschrift Jan-Michael Krügers zeigt. Die Basis für alle bereiten Nagasaki und die Philharmoniker mit bewundernswerter Präzision von Bläsern und Streichern, Klangschönheit und mitreißender Verdi-Kraft. Solch formidable Italianitá können große Häuser nicht besser, Dabei ist auch die Ursprünglichkeit von Leben und Kunst zu erfahren, was im KI-Diktat verlorengeht.

Doch ein Wermutstropfen: Bei der besuchten Vorstellung war das Publikum begeistert, gab immer wieder hochberechtigen Szenen- und jubelnden Schlußapplaus – aber das Große Haus war kaum halbvoll, eher halbleer. Wenn die Lübecker nicht mehr das, was blödsinnigerweise „Hochkultur“ genannt wird (gibt es eine „Niedrigkultur“?) erkennen und wertschätzen, sind hier die Jahre von Musiktheater und Philharmoniker-Konzerten gezählt.

Es gibt noch drei „Simon Boccanegra“-Vorstellungen am 11. November (19 Uhr), 2. Dezember (19.30 Uhr) und 11. Januar (16 Uhr).

Simon Boccanegra (Gerard Quinn, links) und Jacopo Fiesco (Runi Brattaberg). Fotos: Olaf Malzahn

Simon Boccanegra (Gerard Quinn, links) und Jacopo Fiesco (Runi Brattaberg). Fotos: Olaf Malzahn


Text-Nummer: 162133   Autor: Güz.   vom 30.10.2023 um 15.08 Uhr

Text teilen: auf facebook +++ auf X (Twitter) +++ über WhatsApp

Text ausdrucken. +++  Text ohne Bilder ausdrucken.


Please enable / Bitte aktiviere JavaScript!
Veuillez activer / Por favor activa el Javascript![ ? ]